Das Baixa Viertel in Lissabon, Opfer der Gentrifizierung?

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Im Zentrum von Lissabon, im Baixa-Viertel seht ihr in fast allen Straßen Baugerüste, manchmal um ganze Baukomplexe herum. Viele der alten Häuser, die noch aus dem 18. Jh. stammen, werden derzeit renoviert. Andererseits stehen viele der wunderschönen Gebäude leer. Einige wurden in den letzten Jahren zu Ferienwohnungen und -appartements umgewandelt. Wie z. B. auch das Baixa House, in dem wir übernachtet hatten, nur wenige Gehminuten vom Praça do Comércio, dem Zentrum entfernt.

Ganze Häuserkomplexe werden instandgesetzt © Siegbert Mattheis
Blick auf Gebäude im Abendlicht von oben
Verwaiste Häuser, direkt an der Tram-Linie 28 © Siegbert Mattheis
Gelbes Gebäude
Im dritten Stock hatte Fernando Pessoa 1917 seine Firma, heute steht das Gebäude weitgehend leer © Siegbert Mattheis

Gentrifizierung in Lissabon?

Alles deutet darauf hin, dass es wie in Barcelona oder anderen Städten zu einer Gentrifizierung kommt. Also dem Verdrängen der alteingesessenen Mieter zugunsten von teuren Touristenappartements.

Aber im Zentrum von Lissabon, im Baixa-Viertel ist die Lage etwas anders. “Weitaus komplexer”, wie uns der Reisebuchautor Jürgen Strohmaier in einem Gespräch erzählt. Er lebt seit 1994 in Portugal und wohnt in Lissabon. „Ja, doch,“ wägt er seine Worte sorgfältig ab, „es gibt natürlich Fälle, in denen Spekulanten die Häuser verfallen ließen, die bisherigen Mieter rausdrängen, aufwändig und teuer renovieren und sie als Touristenunterkünfte vermieten oder die Häuser mit sattem Gewinn verkaufen.“ Aber das seien tatsächlich nur Einzelfälle. Die Situation gerade im Baixa-Viertel sei eine ganz andere.

Denn Anfang der 2000er-Jahre war fast das gesamte Viertel bereits entvölkert. Tagsüber hatten die wenigen Läden Mühe, Umsatz zu machen und abends war es so gut wie ausgestorben und unsicher. Strohmaier erzählt von einer Anwohnerin, die sich noch gut an diese Zeiten erinnern kann und jetzt begeistert meinte, endlich lebe das Viertel wieder, die Touristen wären hier und viele neue Geschäfte hätten aufgemacht.

Blick auf Praça Comércio früher
Das Baixa-Viertel in den 1980er-Jahren mit Parkplatz auf dem Praça Comércio auf einer alten Postkarte

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Warum das Baixa-Viertel ein besonderer Fall ist

Das hat mehrere Gründe. Zum einen liegt es an der einzigartigen Bauweise der Gebäude. Beim verheerenden Erdbeben 1755 wurde vor allem die Innenstadt, also das heutige Baixa-Viertel, nahezu komplett zerstört. Der Grund lag hauptsächlich darin, dass es auf Schwemmland errichtet war. Beim Wiederaufbau der Stadt nutzte man zum einen die Reste der Ruinen der eingestürzten Gebäude, um den Untergrund zu festigen. Zum anderen wusste man aus Venedig, dass frisches Pinienholz, wenn es beständig in feuchter Umgebung steht, seine statischen Qualitäten über Jahrhunderte hinweg behält.

Markgraf Pombal ließ das Baixa-Viertel auf Holzpfählen errichten

Also ließ der für den Wiederaufbau der Stadt verantwortliche Marquês de Pombal die Gebäude in der Baixa auf einem Wald von Pinienpfählen errichten, 5 m lang und 25 cm dick. Quer darüber wurden Balken gelegt, darauf mit Lehm vermörtelter Stein bis zur Höhe des Pflasters, auf dem das Gebäude ruht. So sind die Bauten erdbebensicher, haben aber daher auch keine Keller.

Das hatte jahrhundertelang wunderbar funktioniert, bis es mit dem U-Bahnbau und weiteren Eingriffen in den Untergrund dazu führte, dass sich der Grundwasserspiegel absenkte. Dadurch liegen die Pfähle nunmehr nicht mehr vollständig im feuchten Erdboden. So setzt inzwischen der übliche Fäulnisprozess ein und das Holz verliert die Widerstandskraft gegen den Druck. Damit sind die Gebäude stark einsturzgefährdet. Ob das schon in 20 oder erst in 50 Jahren geschehen wird, weiß niemand zu sagen.

(Auf der Seite der Portugiesisch-Hanseatischen Gesellschaft könnte ihr das genauer nachlesen).

Zeichnung Holzpfähle
So sind die Gebäude im Baixa-Viertel unterbaut © Associação Luso-Hanseática
Die Restaurierung gestaltet sich nicht einfach © Siegbert Mattheis

Mieten waren seit den Zeiten der Diktatur eingefroren

“Ein weiterer Grund dieser besonderen Situation liegt im Mietendeckel”, erklärt uns Anabela Bártolo, die Gastgeberin des Baixa House. Dieser galt schon in der Diktatur unter Salazar und wurde auch nach der Revolution 1974 weiter übernommen. Die Mieten waren so gut wie eingefroren und den Mietern ein Mietrecht auf Lebenszeit gewährt. Dem damaligen Gesetz entsprechend konnten sie vom Vermieter nicht einseitig gekündigt werden.

So waren monatliche Mieten unter 100 Euro für eine große Wohnung keine Seltenheit. Mit solch geringen Einnahmen konnten die Häuser allerdings weder kaum entsprechend instand gehalten noch grundlegend saniert werden. So verfielen sie und viele Mieter zogen aus der Innenstadt in die äußeren Bezirke. Aber auch Erbstreitigkeiten von immer weiter verzweigten Familien führten in vielen Fällen dazu, dass in die Häuser nicht investiert wurde.
Hinzu kamen portugiesischstämmige Rückkehrer aus der ehemaligen Kolonie Angola, das nach der Unabhängigkeit1974 in jahrzehntelangem Bürgerkrieg fiel. Viele kamen zunächst in den leer stehenden Wohnungen im Baixa-Viertel unter.

Die Lehmann Pleite 2008 und die nachfolgende Finanzkrise traf Portugal besonders hart. Investitionen gingen spürbar zurück. 2012 wurde dann das Mietengesetz grundlegend verändert, Bestandsschutz gilt seitdem nur noch für alte und behinderte Menschen. Seitdem bemüht sich der portugiesische Staat um Investoren.

Umfangreiche Renovierungsarbeiten © Siegbert Mattheis
Eingang eines Hause im Baixa-Viertel © Siegbert Mattheis

Das Baixa House

Das Baixa House war nahezu verwaist, als es der spanische Landschaftsarchitekten Jesús Moraime kaufte. Nur noch ein Mieter wohnte darin. 2011 wurde es vom Architektenbüro José Adrião umfassend instand gesetzt. Deren ursprüngliche Idee war es, das alte Gebäude mit einem respektvollen Ansatz gegenüber dem Charakter des Ortes wieder zum Leben zu erwecken. Und dabei zu versuchen, die ursprünglichen Qualitäten des Hauses, seine Türen, Fenster, Decken und Böden so weit wie möglich zu erhalten. Der Mieter konnte nach der Renovierung ebenfalls wieder in seine ursprüngliche Wohnung zurückkehren.

Baixa House vor der Renovierung © José Adrião
Nach der Renovierung © Siegbert Mattheis

Situation in Alfama und Mouraria

In Lissabons ältesten Stadtvierteln Alfama und Mouraria ist die Situation ganz anders. Die Viertel blieben weitgehend vom Erdbeben verschont und so wohnten die ursprünglichen Einwohner über Generationen hinweg dort. Nun aber werden sie mit teils rigiden Methoden aus dem Viertel verdrängt, um Platz für teuer vermietete Ferienwohnungen für Touristen zu schaffen.

Die Fotografin Camilla Watson hat mit ihrem Fotoprojekt Alma de Alfama, (Seele der Alfama) den Menschen, die im Viertel geboren wurden, mit Portraits ein Denkmal gesetzt. Sie zeigt das Leben und die einige Bewohner, bevor sie aufgrund von ansteigenden Mieten aus ihrem Wohnraum gedrängt wurden. Auf Camilla Watsons Website findet ihr zwei Karten, auf denen die Standorte der Portraits eingezeichnet sind.

Foto einer Frau auf Stein mit Namen Gabriela
Fotoprojekt "Alma de Alfama" von Camilla Watson © Siegbert Mattheis

Bewegung Morar em Lisboa

Gegen diese Gentrifizierung wehrt sich der Verein Associação do Património e População de Alfama (APPA), der ein Teil der Bewegung Morar em Lisboa bildet. Diese relativ neue Initiative engagiert sich gegen den Gentrifizierungsprozess und will in der Stadt ein Leben für alle ermöglichen.
Lurdes Pinheiro, eine Aktivistin des Vereins, ist trotz der vielen negativen Entwicklungen dem Tourismus gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt. Sie betont, dass man in der Organisation an sich nichts dagegen habe. Man sei sich der Wichtigkeit von Touristen für den wirtschaftlichen Sektor durchaus bewusst. Es liege aber in der Aufgabe der Politik, vernünftige Regularien zu finden, die den Tourismus fördern, ohne den Einheimischen ihren Wohn- und Lebensraum wegzunehmen.

Dazu ist gerade eine hochinteressante ZDF/arte-Dokumentation “Re. Der Ausverkauf von Lissabon” erschienen, die bis Ende 2023 in der arte-Mediathek anzusehen ist.

Siegbert Mattheis

Reiseführer Lissabon

Diese beiden Reiseführer von Marco Polo und Dumont haben uns in der Vorbereitung der Reise und auch vor Ort sehr geholfen. Beide gleichermaßen up to date, mit vielen Insidertipps und Hinweisen. Der von Marco Polo bietet Vorschläge für Erlebnistouren an, aber der Dumont-Reiseführer von Jürgen Strohmaier ist weitaus ausführlicher, mit vielen Extras. Ständig aktualisierte Tipps erhaltet ihr über den QR-Code im Buch.

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