Wenn ihr das Herzstück der Alhambra, die Nasridenpaläste in Granada besucht, solltet ihr einen ganz besonderen Blick den einzigartigen Honigwabengewölben widmen. Denn diese Muqarnas sind ein Meisterwerk und ein Wunder der Geometrie. Hier wurde Mathematik zur Kunst.
Geometrie wurde zur Kunstform
Ich hatte mich schon immer für Geometrie begeistert, konnte in Mathematik allerdings nie glänzen 😉 Aber diese beispiellosen, außergewöhnlichen Konstruktionen hatten es mir angetan. Also wollte ich mehr über die Geschichte und die Ursprünge herausfinden. Zumal auch im deutschen Wikipedia nur wenig darüber zu finden ist.
Was sind Muqarnas?
Muqarnas oder auch Mocárabes (span.) nennt man wabenförmige Gewölbe, die an Bienenstöcke oder Tropfsteinhöhlen erinnern. Sie setzen sich aus einer Vielzahl von einzelnen, nur wenige Zentimeter großen Elementen zusammen und bilden so eine einzigartige Struktur an Bögen und Kuppeln. Sie werden auch als Stalaktitengewölbe oder (Honig-) Wabengewölbe bezeichnet.
Diese Elemente sind oft in drei Hauptkategorien unterteilt:
- Zellen oder Nischen: Die primären Bauelemente, die eine konkave Form haben und als Grundlage dienen.
- Verbindende Elemente: Diese helfen dabei, die Zellen miteinander zu verbinden und einen sanften Übergang zu gewährleisten.
- Abschlussstücke: Sie bilden den äußeren Rahmen oder das Ende der Muqarnas-Struktur.
Was macht sie so einzigartig?
Muqarnas setzen sich wie ein hochkomplexes dreidimensionales Tetris-Spiel aus einer Vielzahl von einzelnen Puzzle-Teilen zusammen. Wie genau, ist noch gar nicht schlussendlich erforscht worden. Die Grundformen bestehen jedoch nur aus 7 Einzelelementen mit konkaven und konvexen Formen.
Von jedem einzelnen Element sind 15 unterschiedliche Gebilde bekannt, die zu je mehr als 21 Formvarianten führen. Jede dieser Varianten kann sich wiederum zu über 40 Formgebilden zusammensetzen. So entstehen Tausende unterschiedliche komplexe Variationen.
Wo findet man sie in der Alhambra?
Die Alhambra gilt als eines der bedeutendsten Beispiele des maurischen Stils der islamischen Kunst und ist eines der wenigen noch erhaltenen Bauwerke im maurischen Stil. Denn in der muslimischen und arabischen Welt sind die meisten mittelalterlichen Paläste bereits zerstört oder größtenteils verfallen. So befindet sich hier die weltweit größte Sammlung an Stuckarbeiten im maurischen Stil.
Wenn ihr die Nasridenpaläste betretet, kommt ihr zunächst in den älteren Teil, den Comares-Palast. Dieser wurde vom Emir Yusuf I. ab 1333 angelegt. Die prächtige Holzdecke der sieben Himmel ist bereits ein Meisterwerk des islamischen Kunsthandwerks. Muqarnas-Strukturen sieht man hier jedoch lediglich an Säulen oder Bögen.
Erst wenn ihr weiter durch den Myrtenhof wandert und dann in den Löwenhof einbiegt, kommt ihr zu den faszinierenden Glanzstücken, den erstaunlichsten und prächtigsten Wabengewölbe der Welt in der Sala de Abencerrajes und in der Sala des dos Hermanas.
Nahezu unendliche Möglichkeiten der Gestaltung
Muqarnas stellen so eine dreidimensionale Weiterentwicklung der maurischen Kunst mit nahezu unendlichen Möglichkeiten dar, aus einfachen geometrischen Formen komplexe Muster und Ornamente zu schaffen. Die Muqarnas in der Alhambra erreichen ein in der westlichen islamischen Welt einzigartig hohes Maß an Komplexität. Inzwischen stellen sie sogar ein eigenes Forschungsgebiet an der EPFL, der Eidgenössischen Technischen Hochschule von Lausanne dar. Dort gilt der Architekt Ph.D. Ignacio Ferrer als einer der führenden Experten.
Wie entstanden Muqarnas?
Entstanden sind sie aus der architektonischen Herausforderung, den Übergang von einem rechteckigen, bzw. meist quadratischen Unterbau in eine polygone oder runde Kuppel zu gestalten. Man spricht dabei von einer sog. Trompe, einem schräg über Eck gemauerter Bogen, bei dem das Innere gewölbt oder stufig gestaffelt ist.
Also in gewisser Weise aus dem Versuch der (umgekehrten) “Quadratur des Kreises”. Denn die Kuppelform ist immer noch die stabilste Dachkonstruktion, bei der sich die Schwerkraft der eingesetzten Steine gegenseitig stützt. Daher sind auch einfache Steinhütten früher im Allgemeinen rund angelegt. So wie z. B. die berühmten Trulli in Apulien oder die Kažun Steinhütten in Istrien.
Das Muqarnas-System ermöglicht es, diesen Übergang auf ästhetische und harmonische Weise zu gestalten, anstatt abrupte Winkel oder plumpe Ecken zu verwenden.
Woher stammen Muqarnas?
Der Ursprung der Muqarnas liegt im Nahen Osten, insbesondere in Persien und Mesopotamien. Man vermutet, dass sie bereits zur Zeit des Sassanidenreichs von 224 bis 651 n.u.Z. in Persien zum Einsatz kamen. Später wurden sie in der gesamten islamischen Welt übernommen, darunter Nordafrika, Andalusien, die Türkei und Zentralasien. Die erste bekannte Anwendung der Muqarnas fand man in Bauwerken des 10. Jahrhunderts im heutigen Iran und Irak. Die Technik erreichte im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt, als sie zur Hauptdekoration in Moscheen, Palästen und Medressen, den Universitäten wurde.
Warum in der Alhambra?
Zur Zeit der Nasridenherrschaft im 14. Jahrhundert musste der damalige Emir Muhammad V. zwischendurch für 3 Jahre, von 1359 bis 1362 ins Exil nach Fez in Marokko fliehen. Dort hatte er Zeit, die Architektur der Paläste, Moscheen und deren Gebetsnischen zu studieren. Denn solche sogenannten Iwans waren oft halbkreisförmige Baukörper, deren Kuppeln mit Muqarnas ausgestattet waren.
Er war derart begeistert von dieser ästhetisch visuellen Wirkung im Zusammenspiel von Licht und Schatten, dass er beschloss, nach seiner Rückkehr seinen Palast damit auszuschmücken. 1362 kehrte er siegreich wieder nach Al-Andalus zurück. Das Emirat von Granada, das bereits unter Yusuf I. zu einem wohlhabenden Reich herangewachsen war, erreichte unter der Herrschaft von Muhammad V. bis 1391 durch geschickte Bündnispolitik mit den christlichen Nachbarn seinen wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkt.
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Die prächtigsten Muqarnas-Kuppeln in der islamischen Architektur
So begann Muhammad V. den bisherigen Palast u. a. durch den Löwenhof zu erweitern. Und in dessen Räumen erreichte die Kunst der Muqarnas ihre höchste Raffinesse. Die Kuppel über der Kammer, die heute als Sala de Dos Hermanas (“Halle der beiden Schwestern”) bekannt ist, ist eine der prächtigsten Muqarnas-Kuppeln in der islamischen Architektur. Sie besteht aus mehr als 5.000 einzelnen Elementen, die sich von einem zentralen Gipfel nach unten zu 16 Miniaturkuppen um den Umfang der Kuppel entfalten.
Wie wurden Muqarnas geplant?
Wie aber bestimmt man die Anzahl und die Formen, damit sich ein so komplexes, kunstvolles Ganzes ergibt? Der Schlüssel dazu liegt in einer der ältesten Wissenschaften, der Mathematik. Ihre erste Blüte erlebte sie noch vor der Antike in Mesopotamien, Indien und China, später in der Antike in Griechenland und im Hellenismus. Arabische Künstler übersetzen die Werke von Euklid ins Arabische. So gelangte dieses Wissen auch nach Granada. Von dort aus erreichte es als Übersetzung aus dem Arabischen schlussendlich in die im frühen Mittelalter gegründeten Universitäten Montpellier, Bologna oder Paris.
Wie wurden Muqarnas gebaut?
Das Ergebnis ist ein selbsttragendes Gewölbe aus Gips, das an den Wänden des Gebäudes gestützt wird und unabhängig von der Dachkonstruktion ist.
Die Konstruktion eines Wabengewölbes erforderte ein anfängliches geometrisches Design, um die Form der Module zu definieren und ihre Größe an die Spannweite des zu bedeckenden Raums anzupassen.
Dabei kamen zwei Sorten von Gips zum Einsatz, grauer Grobputz zur Verzahnung und weißer Endputz für die Dekoration. Beide wurden mit Negativ-Formen hergestellt. Zunächst befestigten die Handwerker die verschiedenen Teile mit Gips mit einem Stützsystem, das aus einer Reihe von Holzstreben bestand, die zur Unterstützung des Gewölbes verwendet wurden. Anschließend wurden die Wabenmodule provisorisch an der Rückseite des Dachgitters befestigt, bis der Putz vollständig fest war. Nach und nach wurden so die einzelnen Elemente ausgehend von den Seiten hinzugefügt. Nach dem Zusammenbau des Gewölbes wurde eine Schicht Calciumsulfat über die gesamte Oberfläche aufgetragen. So erhielt sie eine gleichmäßigere und leuchtendere Farbe sowie eine glattere, weniger poröse Textur, die sich besser für das Auftragen der polychromen Farben eignete.
Gibt es Muqarnas auch außerhalb der muslimischen Welt?
Tatsächlich übernahmen auch viele christliche Herrscher diesen Architektur- und Dekorationsstil. Er findet sich z. B. in Bauten der spanischen Eroberer sowie in einigen Denkmälern der arabisch-normannischen Architektur im Sizilien des 12. Jahrhunderts. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Cappella Palatina (ca. 1140) in Palermo, die ein zentrales Kirchenschiff hat, das von dem größten rechteckigen Muqarnas-Gewölbe der Welt aus bemaltem Holz bedeckt ist.
Haben Muqarnas eine religiöse Bedeutung?
Neben der rein dekorativen haben die Gewölbe auch eine symbolische Funktion für die islamische Welt. Es gibt mehrere Theorien über ihre mögliche symbolische Bedeutung. Mit ihrem einen sanften Übergang zwischen flachen und gewölbten Oberflächen scheinen sie eine Verbindung zwischen Himmel und Erde darzustellen.
Die Muqarnas-Domen wurden oft über Eingangsportalen gebaut, um eine Schwelle zwischen zwei Welten zu schaffen. Die himmlische Konnotation der Muqarnas-Struktur stellt eine Passage aus “den Funktionen des Lebens oder des Wartens auf das ewige Leben dar, die durch geometrische Formen ausgedrückt werden”.
Ein weiterer ästhetischer Aspekt der Muqarnas ist ihre Verknüpfung mit der islamischen Vorstellung von Unendlichkeit. Die scheinbar unendliche Wiederholung der Muster und Nischen könnte als symbolische Darstellung des unendlichen Universums oder der spirituellen Grenzenlosigkeit verstanden werden.
Ich hoffe, ich konnte euch ein wenig mit meiner Begeisterung für diese unvergleichlichen Dekorationsarchitektur anstecken … 😉
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Siegbert Mattheis