Traumwandeln durch Palermo, der sizilianischen Hauptstadt … fremd und verlockend. Ein Reisebericht mit kleinen Überraschungen …
Die meisten Privatreisen gleichen einer Flucht. Raus aus der Tretmaschine des Alltags, etwas anderes sehen, vielleicht sogar ein anderes Leben führen, ein anderer Mensch werden. Deshalb habe ich ein verlängertes Wochenende in Palermo gebucht. Warum Palermo? Der Wahl lag nicht mehr zugrunde als eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Italien der Kindheit: fremd und verlockend.
Landung um Mitternacht auf dem Flughafen Falcone-Borsellino, benannt nach zwei von der Mafia ermordeten Richtern. Taxifahrt im Halbschlaf. Dann: Vollbremsung bei sehr hohem Tempo, Ruck nach vorne, Ruck nach hinten. Italienische Flüche. Ein Junge ist mit seinem Mofa ganz plötzlich auf die Straße eingebogen – der Taxifahrer hat Schlimmeres verhindert.
Wir erreichen das Hotel. Die Nachtluft bringt keine Abkühlung, es ist feuchtwarm in Palermo, auch zu vorgerückter Stunde. Samstagnacht. Ein Platz mit Palmen und balsamisch duftenden Pflanzen, Restaurants und Bars sind noch geöffnet. Liebespaare und die Prozession der Fahrzeuge. Aus einer mit Lampions behangenen Kirche ergießt sich eine Menschenmenge – jetzt noch, so spät? Ein Feuerwerk wird abgeschossen. Das Fiepen der Ampel bei Grün hört sich an wie Grillenzirpen.
Unruhige Nacht im Hotel. Die Klimaanlage ächzt und stöhnt, die Wasserspülung des Nachbarn faucht neben meiner Kommode. Am nächsten Morgen bin ich seltsam benommen. Es wird ein heißer Tag, das steht fest.
Spaziergang durch die Altstadt. Säulen, Palmen, Mofas, Trümmer. Der legendäre Verfall Palermos. Viele Altbauten sind im Zustand der Auflösung, an mancher Ecke türmt sich Müll. Doch nach allem, was man hört, ist das hier der Normalzustand und nie anders gewesen. “Woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt?”, fragte Goethe 1787. Die Antwort, die er bekam, hat sich bis heute nicht geändert: “Es ist bei uns nun einmal, wie es ist.”
Derweil könnte man den Eindruck gewinnen, dass es hinter den Kulissen überaus reinlich zugeht. Aus den Fenstern hängt – wie vom Fremdenverkehrsamt bestellt – die Wäsche: Hemden, Kleider, Röcke, Hosen, Unterhosen, alles trocknet unter der Sonne Italiens und den Blicken der Fremden.
Merkwürdig, dass Palermo am Meer liegt, man es aber nirgends sieht. Die Stadt steht mit dem Rücken zur See. Es gibt keinen Strandboulevard, keine Hafenpromenade. Auch weht kein Wind von der See her. Schaut man indessen von der Via Roma – einer der großen Verkehrsadern und Flaniermeilen – die Seitenstraßen hinunter, so kann es sein, dass am anderen Ende unvermittelt ein Kreuzfahrtschiff aufragt. Der Ozeanriese liegt so dicht an der letzten Häuserzeile, dass es scheint, er sei mitten auf der Straße vor Anker gegangen.
Überall werden Köstlichkeiten angeboten, selbst am Sonntag, wenn die Märkte und die meisten Geschäfte geschlossen sind. In Kühlvitrinen und anderen gastronomischen Schreinen drehen sich Torten, teilweise grell gefärbt. Die Gäste wirken bedächtig, zerzupfen Croissants und süße Brötchen wie in Trance.
Der heiße Atem des Schirokko heizt der Stadt ein. Alle Fensterläden sind geschlossen, damit die Hitze draußen bleibt. Die Kleidung klebt am Körper. Aus der Glut eines Platzes flüchte ich in die kühle Dämmerung der Kathedrale. So tief im Süden erscheint die angestammte Religion des eigenen Kulturkreises exotisch. Ein Mann im Anzug kniet mit gefalteten Händen vor einem Altar mit einer Büste des blutüberströmten Heilands. Touristinnen, die das Gotteshaus mit zu kurzen Röcken betreten, müssen sich mit weißen Papierkitteln bedecken. Die Hand jedes Einheimischen geht beim Betreten der Glaubensburg reflexartig ins Weihwasserbecken. Vorne, beim Priester, wird der Rosenkranz aufgesagt. Das Ritual hat etwas Beschwörendes.
In einer Gelateria feiert eine Familie den Geburtstag oder vielleicht auch die Erstkommunion ihres Sohnes. Alle sind im Sonntagsstaat, selbst Oma läuft auf Stöckelschuhen. “Soll ich Ihnen etwas verraten?”, raunt mir der Ober zu. “Das ist die Mafia. Alle, die hierher kommen, gehören zur Mafia.” Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass er dies allen Touristen so erzählt, um ihre Reaktionen zu testen. Doch dann durchfährt es mich plötzlich: Der Vater des Kommunion-Jungen, schwarze Sonnenbrille, Macho-Haltung, zückt eine schwarze Pistole. Erst als er sie dem Sohn aushändigt, wird mir klar, dass es sich um eine Spielzeugwaffe handelt.
Es hat wohl mit dem Ort zu tun, dass man hier Dinge für möglich hält, die man unter normalen Bedingungen sofort ausschließen würde. Palermo benebelt die Sinne. In der flirrenden Luft zerfließen die Konturen. Dazu die schweren Weine und der ständige Fäulnisgeruch – all das ist einem klaren Verstand nicht eben zuträglich. Als ich das nächste Mal auf die Felswände schaue, die Palermo an drei Seiten einschließen, fällt mir wieder ein, dass sich die Mafia von dort ihre Killer geholt hat. Irgendwo habe ich das zumindest mal gelesen, allerdings könnte es auch ein Kriminalroman gewesen sein.
Ich begebe mich zu einer Siesta aufs Zimmer, döse ein. Plötzlich schrecke ich hoch – an meinem Bett steht ein Fremder! Ist die Mafia gekommen, weil ich im Eissalon Fotos gemacht habe? “Entschuldigen Sie”, sagt der Herr in gebrochenem Englisch. “Ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Sie hatten doch heute morgen Ihren Schlüssel an der Rezeption abgegeben?” – “Ja, und dann habe ich ihn wieder abgeholt.” Unter vielfachen Entschuldigungen macht der Eindringling kehrt und verschwindet. Ich ziehe es vor zu glauben, dass er irgendwo im Zimmer nach dem Rechten sehen wollte.
21.00 Uhr abends. Jetzt erst füllen sich die Tische vor den Restaurants. Man isst ausschließlich draußen. Ein Bettler kommt zu mir, fordert ein Almosen ein, setzt sich dann an den direkten Nachbartisch und bestellt Spaghetti mit Sardinen. Anschließend zahlt er, steht auf und bettelt am nächsten Tisch. All das erregt nicht die geringste Aufmerksamkeit.
In Palermo kann man die italienische Kellnerhierarchie noch in höchster Vollendung erleben. Der Oberkellner schreibt die Bestellung auf, reißt den Zettel vom Block und reicht ihn nach rechts. Dort nimmt ihn ein jüngerer Kellner in Empfang und trägt ihn in die Küche. Das ist seine einzige Aufgabe. Für das Servieren der Speisen sind wieder zwei andere Kellner zuständig. Der Oberkellner selbst tut keinen Handgriff, er ist nur für die Konversation zuständig, wobei er neben Italienisch ausschließlich Französisch spricht. Auf Englisch reagieren auch jüngere Einwohner dieser Stadt mit völliger Verständnislosigkeit.
Morgens um 7.00 Uhr wird der Balkon meines Zimmers unter Einsatz von Presslufthämmern abgerissen. Nun verlange ich unverzüglich ein besseres Quartier, komme auch auf den ungebetenen Besuch vom Vortag zu sprechen. Ohne weitere Umstände übergibt man mir ein sehr viel größeres und schöneres Zimmer. Ich überblicke einen Park mit der Statue irgendeines Mannes mit Verdi-Bart. Die Hecken sind geschnitten, aber der Rasen ist genauso wenig gepflegt wie die Blumenbeete.
So scheint es sich hier mit mancherlei Dingen zu verhalten: Das Geld reicht gerade einmal für das Nötigste, zumal eine solche Vielzahl an Baudenkmälern und Parkanlagen unterhalten werden müsste. So manche mürbe gewordene Kirche ist von einem Bauzaun umgeben oder wird von Gerüsten verdeckt. Strandgut der Zeiten.
Spaziergang durch die Gassen des Marktes, der schon etwas von einem orientalischen Basar hat. Pyramiden aus Orangen, sockelartig arrangierte Limonen und lange Reihen von perlmuttsilbern schimmernden Fischleibern. Darüber Fliegenschwärme, darunter stolze, herrenlose Katzen. Viele Händler haben ein Foto von Padre Pio über den Auslagen kleben, dem 2002 heiliggesprochenen Seher und Heiler. Selbst im Waschsalon fehlt sein Bild nicht. Die Bezugspunkte der Menschen hier sind andere.
Der letzte Tag bringt Regen, aber keine Abkühlung. Dünne Wolkenbänder legen sich wie Saturn-Ringe um die Berge, die nun schwarz und bedrohlich wirken. Ich nehme den Bus zum Flughafen, meine Flucht geht zu Ende. Ich werde wenig zu berichten haben daheim. Es ist wie so oft nach dem Aufwachen: Von den wenigsten Träumen kann man erzählen.
Christoph Driessen
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