In Tel Aviv wurde im Mai 2019 der 64. Eurovision Song Contest unter dem Motto “Dare To Dream!“ ausgetragen. Zu verdanken ist dies der israelischen Sängerin Netta Barzilai und ihrem Song „Toy“, mit dem sie 2018 in Lissabon den ESC gewonnen hat. Ähnlich bunt, schrill und unkonventionell wie die Interpretin im Video zum Song ist auch Tel Aviv. Warum es aber trotzdem oder grade deswegen eine Reise wert ist, erfahren Sie hier.
Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick, als wir Mitte Januar in Tel Aviv ankamen und vom Flughafen Ben Gurion mit dem Taxi in die Innenstadt zum Hotel fuhren. Das sollte die „Weiße Stadt am Meer“ sein? Das Berlin am Mittelmeer mit orientalischer Prägung? Unser erster Eindruck waren übervolle Straßen, eine unglaubliche Ansammlung von Hochhäusern und unzählige Baustellen. Und dazwischen jede Menge maroder Gebäude. Dazu Verkehrslärm, Fluglärm, Dreck, Chaos.
Doch der erste Schock war schnell überwunden und wir tauchten ein in Tel Aviv, das einerseits mit 110 Jahren noch relativ neu ist und gleichzeitig mit Jaffa – mit dem es seit 1948 vereint ist – über 4.000 Jahre Weltgeschichte erzählt. Rund 445.000 Menschen leben heute in Tel Aviv, ca. 90% sind Juden, 5% Araber und 5% andere ethnische Gruppen. Ihre Wurzeln haben sie überall in der Welt, und dieses Gemisch aus verschiedenen Kulturen und Religionen prägt sowohl Lebensgefühl als auch das kulinarische Angebot.
Jeder Bewohner hat dabei seine Geschichte, die immer auch etwas mit Vertreibung und Religion zu tun hat. Unser Besuch in Tel Aviv hat uns daher auch geholfen, die Positionen im Nahost-Konflikt von Juden und Arabern etwas besser zu verstehen.
Stadtstrand: Platz für alle auf 14 Kilometern
Gleich nach unserer Ankunft in Tel Aviv sind wir direkt zum Strand gelaufen, um tief Luft zu holen und die ersten Eindrücke zu sortieren. 14 km ist die gut ausgebaute Strandpromenade mit den vielen Strandbars lang und wer ganz im Norden startet und runter bis zum südlichen Ende in Jaffa läuft – oder mit einem Mietfahrrad abfährt – bekommt auch gleich eine Zusammenfassung dessen geboten, was das Lebensgefühl in Tel Aviv so besonders macht. Das ganze Jahr sieht man hier in Sichtweite der Bürotürme Wellenreiter, Kite-Surfer und Stand-Up-Paddler. Die Promenade ist bevölkert von Joggern, in öffentlichen Outdoor-Fitnessstudios formen sich schöne Körper, auf den Rasenflächen verbiegen sich Yoga-Jünger. Doch das „richtige“ Strandleben findet von März bis Anfang November statt, dann räkeln sich die Sonnenanbeter im Sand oder spielen Matkot, eine Art Beachball mit Holzschlägern und kleinem Ball. Die Diversität Tel Avis zeigt sich aber auch darin, dass es z.B. einen extra Strandabschnitt gibt für orthodoxe Juden, wo Männer und Frauen nach Tagen getrennt baden. Nicht weit davon liegt der Strand speziell für Homosexuelle. Und es gibt auch Hundestrände. Denn Tel Aviv hat mit über 20.000 registrierten Hunden die höchste Dichte an Vierbeinern je Einwohner weltweit.
Kulinarisches Schlaraffenland
Tel Aviv ist ein Paradies für alle, die gerne essen und neue Geschmäcker ausprobieren. In den Küchen funktioniert die Völkerverständigung perfekt und Rezepte aus aller Welt werden immer wieder neu kombiniert. Und auch das Angebot an Brotsorten und süßen Leckereien ist beeindruckend. Spürbar ist der orientalische Einfluss, aber es gibt z.B. auch koschere italienische Küche und jede Menge vegane Angebote. Preiswert ist ein Restaurantbesuch jedoch nicht, zumal die Steuer auf alkoholische Getränke 50% beträgt. Absolutes Muss ist ein Besuch auf dem Carmel Market, mit unzähligen Imbiss-Buden sowie einer riesigen Auswahl an frischem Obst, Gemüse, Backwaren und Fisch.
Boomtown, Bauhaus und bunte Vielfalt
Das Stadtbild von Tel Aviv hat uns wirklich überrascht, denn es ist wenig homogen und vielleicht grade darum so interessant. Vor allem in der Innenstadt stehen hochmoderne Hochhäuser mit futuristischen Fassaden unmittelbar neben 100 Jahre alten Gebäuden. Der Grund: Baugenehmigungen für Hochhäuser werden nur erteilt, wenn – je nach Investition und Höhe – bis zu vier alte Häuser restauriert werden. Und es gibt die „Weiße Stadt“ mit rund 4.000 Bauten im Bauhaus-Stil aus den 30er-Jahren, die seit 2003 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Strahlend weiß sind jedoch nur noch wenige, ein Großteil wirkt angegraut und wartet auf eine Sanierung. Doch die ist extrem teuer, da die Denkmal-Auflagen sehr hoch sind. Und wer Lust auf richtig alte Gemäuer hat: Der Hafen unterhalb der Altstadt von Jaffa ist mit seinen 5.000 Jahren der älteste der Welt. Er liegt nur wenige Minuten entfernt vom lebhaften bunten Flohmarkt-Viertel mit arabischen Händlern, Boutiquen und Cafés.
Startups und Militär
58% der Bevölkerung ist unter 40 Jahre alt. Das spiegelt sich im Straßenbild und formt den Mythos als Partymetropole. Doch hier wird nicht nur exzessiv gefeiert, sondern auch hart gearbeitet. Viele der jungen Bewohner sind in der boomenden StartUp-Szene beschäftigt. In Tel Aviv versammeln sich direkt nach dem Silicon Valley die meisten High-Tech-Start-ups weltweit. Warum das so ist, hat uns Gilad – ein junger Ingenieur, mit dem wir an einer Strandbar ins Gespräch kamen – auf sehr überraschende Weise beantwortet. Für ihn ist das Militär einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren. Jeder junge Israeli muss mit 18 Jahren, d.h. direkt nach der Schule zur Armee. Männer dienen drei Jahre, Frauen rund zwei. Anders als in Deutschland sind Wehrdienstverweigerer gesellschaftlich verpönt und haben im späteren Berufsleben deutlich schlechtere Chance. Laut Gilad lernen die jungen Menschen in der Armee wichtige Fähigkeiten für Unternehmer: Selbstdisziplin, Umgang mit Risiken sowie Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Dazu kommt, dass es Spezialeinheiten gibt für die Entwicklung von Drohnen, Satelliten und Cyber-Tech. Und genau in diesen Bereichen sind die StartUps aus Tel Aviv führend in der Welt.
Tatsächlich hat uns die massive Präsenz von jungen Soldaten in Uniform – oft mit Maschinengewehr – anfangs etwas verstört. Ebenso wie die Tatsache, dass in jedem Wohnhaus Schutzräume gegen Bomben- und Raketenangriffe eingebaut sind. Denn was bei aller spürbaren Lebensfreude gerne verdrängt wird: der Gazastreifen ist nur etwa 60 km entfernt.
eMobility: Rasende Hedonisten
Während die Gefahr eines Anschlages eher subtil zu spüren ist, das Risiko von einem E-Bike oder E-Scooter umgefahren zu werden, erschien uns deutlich realer. Tel Aviv ist im Bereich eMobilty führend. Verständlich, denn hier gibt es keine U- oder S-Bahn, sondern nur Busse. Wer also den täglichen Verkehrsstau umfahren will, steigt auf das Zweirad und nutzt den Bürgersteig – oft auch über 40 kmh schnell und voll bepackt.
Tipps:
Sabbat beachten
Jeden Freitag ab Sonnenuntergang bis Samstag Abend steht alles still, d.h. es fahren keine öffentlichen Busse oder Züge. Auch Geschäfte, Märkte sowie koschere Restaurants haben geschlossen.
Mit Tel Aviv Greeters die Stadt erkunden
Einheimische zeigen kostenlos die Stadt und ihre Lieblingsplätze. Gleichzeitig erfährt man durch die Gespräche sehr viel über das Leben in Tel Aviv. Anmeldung möglichst 3 Wochen vorher unter www.telavivgreeter.com
Jerusalem besuchen:
Nur 60 km bzw. rund eine Stunde mit dem Bus liegt Jerusalem entfernt. Für die Tour mindestens einen Tag einplanen. Wichtig: durch die Höhenlage ist es deutlich kühler als in Tel Aviv.
Claudia Mattheis
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